Neues und Historisches

Ein Leben in Ost und West: Renate Zimmet, Jahrgang 1932 Ein Leben in Ost und West: Renate Zimmet, Jahrgang 1932

Ein Leben in Ost und West: Renate Zimmet, Jahrgang 1932

i 29. Juli von U. Beyer

Wie hat die deutsche Geschichte Ihr Leben beeinflusst? so wurde Renate Zimmet, geborene Schwarz, eine Pfaffenhofener Neubürgerin, gefragt. Und sie hat Spannendes zu erzählen.

Familie und Elternhaus

Ein Jahr bevor Hitler an die Macht kam, erblickte sie das Licht der Welt in Wittenberge in der Prignitz, einer Stadt an der Elbe in Brandenburg, ziemlich genau zwischen Hamburg und Berlin. Ihr Vater war dort evangelischer Pfarrer.
Über Politik, wurde zu Hause wenig gesprochen. Dem Hitlerregime stand man in der Anfangszeit zumindest nicht negativ gegenüber. "Meine Großmutter war sehr gläubig, aber sie glaubte auch an Hitler." erzählt die Seniorin. Im Nachlass dieser Großmutter fanden sich unter anderem Postkarten von Freunden, die vielleicht zum ersten Mal im Leben durch die nationalsozialistische Organisation KDF (Kraft durch Freude) eine Reise machen konnten.
Wie viele ihrer jungen Zeitgenossen traten die beiden Brüder in die Hitlerjugend und ihre kleine Schwester in die Jungschar ein. Diese Organisationen warben mit den verschiedensten Aktivitäten um Jugendliche, um sie für den Nationalsozialismus zu ködern. Renate war gerne dabei, nur das passende Uniformkleid bekam sie nicht. Der älteste Bruder (Günther) musste als Schüler ein Kriegstagebuch führen, in das er unter anderem Artikel aus dem Völkischen Beobachter einklebte.

1938 zog die Familie nach Waldheim in Sachsen, weil der Vater den Wunsch hatte, im Strafvollzug zu arbeiten, und es dort ein Zuchthaus gab. Damit begannen die Erfahrungen mit der dunklen Seite der Naziherrschaft. Seine neue Arbeitsstätte beherbergte nicht nur einen Männer- und eine Frauentrakt sondern auch eine Heil- und Pflegeabteilung. Bald merkte Pfarrer Schwarz, dass dort Euthanasie praktiziert wurde, also für „lebensunwert“ erklärte Frauen und Männer ermordet wurden. Er fühlte sich moralisch verpflichtet, den verantwortlichen Arzt diesbezüglich zur Rede zu stellen, bekam aber nur zur Antwort: "Sie machen Ihre Arbeit, ich mache meine."

Die Dienstwohnung der Pfarrersfamilie lag an der Straße zum Bahnhof, so dass die Kinder von Zeit zu Zeit beobachteten, wie ganze Züge erbärmlich aussehender Gefangener von dort zum Zuchthaus geführt wurden.
Auch politische Gefangene saßen dort ein, darunter der Kunstmaler Alexander Neroslow aus Sankt Petersburg und seine Frau Gertrud. Sie waren zu lebenslanger Haft verurteilt, weil sie sich in einer kommunistischen Widerstandsgruppe engagiert hatten. Pfarrer Schwarz setzte sich dafür ein, dass der Künstler sonntags malen durfte.

Nach Kriegsende, als das Zuchthaus aufgelöst wurde, setzte die russische Besatzung Gertrud Neroslow als Direktorin der örtlichen Oberschule ein, weil die bisherigen Lehrkräfte wegen ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen wurden. Nun sollten alle Schüler der FDJ beitreten (der Freien Deutschen Jugend, dem kommunistischen Jugendverband der DDR). Wer es nicht tat, wurde wiederholt ins Direktorat be
ordert und von Frau Neroslow bearbeitet. Sie malte die Zukunft der Schüler in düsteren Farben. Ohne Mitgliedschaft in der FDJ hätten sie keine Chance auf eine erfolgreiche Karriere und würden als "Straßenfeger" enden. Doch alle drei Pfarrerskinder blieben standhaft. Die Brüder legten ihr Abitur ab, ihre Schwester verließ die Schule nach der 10. Klasse. Damit war der "Fall Schwarz" für die Schulleiterin endlich erledigt. Auch später widerstand die Pfarrerstochter der Versuchung, durch Systemkonformität Vorteile zu erzielen. Als ihr zum Beispiel die Möglichkeit eröffnet wurde, durch den Eintritt in die SED Oberschwester zu werden, verzichtete sie lieber.

Ausbildung

In Absprache mit den Eltern entschloss sich Renate Schwarz, landwirtschaftliche Lehrerin zu werden, und begann eine zweijährige Lehrzeit, zuerst in einem kleineren, dann in einem großen Familienbetrieb. Da kam schwere bäuerliche Arbeit auf die Pfarrerstochter zu, die nicht nur die Hände stark strapazierte, z. B. beim Kühe-Melken per Hand oder beim Ausmisten des Kuhstalls. (Eine kleine Anekdote zwischendurch: Eine der Kühe hieß Lydia. Sie reagierte aber nicht, als die neue junge Arbeitskraft sie so ansprach. Des Rätsels Lösung: Die Kuh kannte nur die sächsische Aussprache ihres Namens: "Lidscha".)
Auf dem kleineren Bauernhof war das Leben erträglicher, denn der hatte noch mehr Freiheiten und musste weniger Abgaben leisten als der große, wo sogar die Schweine dürr waren, weil das Futter knapp war.
Diese beiden Betriebe waren noch in Privatbesitz bis zur Bodenreform 1951, in der die großen Güter enteignet und Genossenschaften gegründet wurden.

Renate Schwarz hatte als staatlich geprüfte Landwirtin nun zwei Alternativen: Sie konnte Geflügelzüchterin oder "Rucksackbulle", d. h. amtliche Besamerin werden, also künstlich Besamung von Kühen durchführen. Keine dieser Möglichkeiten sagte ihr zu, so dass sie sich stattdessen zur Krankenschwester ausbilden ließ. Als solche arbeitete sie an verschiedenen Krankenhäusern, z. B. in Halle, Weimar und Leipzig.
Während ihrer Tätigkeit in Halle tauchte eines Morgens der Chefarzt nicht mehr auf, so dass die gynäkologische Abteilung plötzlich ohne Arzt dastand. Er hatte sich nach Westdeutschland abgesetzt, was damals noch einfacher war, vor dem Bau des "antifaschistischen Schutzwalls" im Jahr 1961.

Bezug zu Westdeutschland

Einer der Brüder, Reinhard, studierte in den 1950-er Jahren in Tübingen Theologie. Seine Schwester Renate besuchte ihn und hätte dort bleiben können, wollte aber wieder zurück nach Hause, zu den Eltern in die DDR.
Viele der Klassenkameradinnen von Renate Schwarz blieben unverheiratet, weil die geeigneten Männer gefallen waren oder in den Westen "abgehauen". Für diese Frauen kamen nur noch Witwer oder geschiedene Männer in Frage. Geschieden war auch Hans Zimmet, den sie schließlich in Leipzig kennen lernte. Er stammte aus Dresden, und "aus Dresden zieht niemand weg". So folgte sie ihrem Mann ins ehemalige Elbflorenz, wofür sie einerseits beneidet, andererseits bedauert wurde: "Ach Dresden mit seiner herrlichen Umgebung, in der man wunderbar wandern kann! Aber du ziehst ins Tal der Ahnungslosen." So nannte man Dresden zur DDR-Zeit, weil man dort kein West-Fernsehen empfangen konnte. Da sie so spät geheiratet hatte, galt sie mit ihren 37 Jahren als Spätgebärende , als 1970 ihre Tochter zur Welt kam.

Ihr Bruder Reinhard, der Theologe, der nach dem Studium in Westdeutschland geblieben war und noch heute in München lebt, redete den Eltern, die längst im Ruhestand und gesundheitlich angeschlagen waren, zu, ebenfalls in den Westen zu gehen. Sie übersiedelten 1975 mit offizieller Genehmigung der DDR-Behörden, die Rentenempfänger nicht ungern der BRD überließen. Zuerst mussten sie an der Privatadresse des Sohnes gemeldet sein, eine Weile später konnten sie in ein Seniorenheim ziehen, wo sie gemeinsam noch schöne Jahre verlebten.

Zu Geburtstagen oder einer goldenen Hochzeit durften ostdeutsche Bürger einmal im Jahr Verwandte ersten Grades in Westdeutschland besuchen. Dazu musste man eine amtliche Genehmigung einholen. Renate Zimmet tat das wiederholt. Ihre Tochter musste zur Sicherheit, praktisch als Pfand, in der DDR zurückbleiben. Ihr Ehemann kam als Verwandter zweiten Grades (Schwiegersohn) ohnehin nicht in Frage. Außerdem war er "Geheimnisträger", weil er in der Kamera-Entwicklung beschäftigt war. Davon durfte man im Westen nicht einmal etwas erzählen. West-Besuche waren ihm verboten. Erstaunlicherweise wurde Renate Zimmet, als sie im Mai 1989 wieder eine Besuchsgenehmigung beantragte, gefragt, ob ihr Mann nicht ebenfalls mitkommen möchte. Das Ende der DDR machte sich also auch in dieser Hinsicht schon bemerkbar.

Nur ca. 20 Ost-Mark durften die Zimmets 1989 in Westgeld umtauschen. Mit einem Zuschuss vom Bruder in München machte das Ehepaar glücklich einen Kurz-Urlaub in Murnau am Staffelsee.
Hans Zimmet sang verschmitzt:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen

den schickt er in die weite Welt.

Den lässt er von der Weißwurst beißen

und schenkt ihm sogar noch West-Geld.



Von der Wiedervereinigung sagt Renate Zimmet: "Es war höchste Zeit, dass sie kam, denn sonst wäre der Osten Deutschlands noch weiter heruntergekommen. Aber dann ging alles zu schnell, und dem Osten wurde das West-System einfach übergestülpt."

Übersiedlung nach Pfaffenhofen

Die Tochter der Zimmets ging schon 1990 mit ihrem damaligen Verlobten nach Herrsching, wo sie als MTL (Medizinisch-Technische Laborantin) in einer Privatklinik Arbeit fand. Jetzt arbeitet sie an der Ilmtalklinik und lebt in Burgstall.

Renate Zimmet hat die ganze DDR erlebt und überlebt. Als ihr Ehemann gestorben war und ihre Tochter ihr erzählte dass eine Freundin ihre alten Eltern nach Pfaffenhofen geholt hatte, um sie näher bei sich zu haben, überlegte sie, ob sie diesen Schritt ebenfalls wagen sollte. Die Tochter fand die Idee gut, weil es damit einfacher sein würde, sich um die Mutter zu kümmern, wenn es notwendig werden würde. Günstiger als Burgstall war allerdings Pfaffenhofen, wegen der Verkehrsanbindung und der nahen Ilmtalklinik. Also suchte und fand man eine Wohnung in der Joseph-Maria-Lutz-Straße. Das war 2012.

Nach 42 Jahren in Dresden begann Renate Zimmet einen völlig neuen Lebensabschnitt, in dem alles anders ist. Sie hat sich schnell eingelebt und ist sehr froh über ihren Entschluss. "Ich habe kein Heimweh. Pfaffenhofen ist jetzt meine Heimat." sagt sie.
Ihr gefällt die lockere, fast schon italienische bayerische Lebensweise, z. B. dass Einheimische in den Straßencafès am Hauptplatz frühstücken. Sie liebt den bairischen Dialekt und schätzt das rege ehrenamtliche Engagement in den verschiedensten Vereinen, wie z. B. bei den Schäfflern, im Theaterkreis oder auch in Chören. Sie stellt fest, dass kulturell erstaunlich viel geboten ist.

Auf diese Weise hat sie den Heimat- und Kulturkreis Pfaffenhofen kennen gelernt und ist beigetreten, auch weil sie seine Ziele befürwortet. Selbst hat sie in diesem Verein schon geholfen, beim Entziffern alter Texte in Sütterlin-Schrift. Privat geht sie jede Woche mit zwei weiteren Vereinsmitgliedern ins Altenheim St. Franziskus, um für die Bewohner Flöte zu spielen. "Die Flötentöne hat mir mein Vater beigebracht." Von ihren Eltern hat sie auch gelernt, auf Menschen zuzugehen. Das hat ihr geholfen, heimisch zu werden. Denn als sie im Gemeindebrief der evangelischen Kirche den Aufruf las, sich für den Besucherdienst zu Geburtstagen zu melden, tat sie dies. So lernte sie viele Menschen kennen und übte, sich in den Straßen der Stadt zu orientieren.

Auf die Frage, was sie sich für Pfaffenhofen noch wünschen würde, antwortet sie: "ein Mitfahrbankerl z. B. an den Ausfallstraßen, damit man Veranstaltungen in den Nachbarorten besuchen kann". Sollte man einer so positiv eingestellten Neubürgerin diesen Wunsch nicht erfüllen?

Kommentare

*

Bitte das Ergebnis eintragen: