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Zeitzeugen berichten: Heinz Scharf - Jahrgang 1939 Zeitzeugen berichten: Heinz Scharf - Jahrgang 1939

Zeitzeugen berichten: Heinz Scharf - Jahrgang 1939

i 29. November 2017 von U. Beyer

Heinz Scharf - ein gebürtiger Pfaffenhofener - kam bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 zur Welt.

Der Großvater mütterlicherseits, Josef Schweiger, hatte sich in der Draht, Haus Nummer 33, als Fell- und Darmhändler niedergelassen. Er bekam über einen Zwischenhändler Fässer mit eingesalzenen Tierdärmen geliefert, die er zur Wurst-Herstellung an die Metzger in Pfaffenhofen und Umgebung verkaufte. Häufig war er mit seiner Ware per Fahrrad unterwegs: zu Bauern, die noch selbst schlachteten, zu Landmetzgern und Wirten mit eigener Metzgerei, wie z. B. Fuchs in Reichertshausen. Wenn dort ein Rind geschlachtet worden war, bekam er die Kuhhaut zur Weiterverarbeitung. Jäger aus der Umgebung brachten ihm kleinere Tiere wie Hasen, Marder, Bisamratten, Wiesel oder Katzen, welchen er das Fell abzog, das er trocknete und zum Gerben weggab. Für seinen Enkel Heinz war das Zuschauen immer eine Lehrstunde in Anatomie.
Der Darmhandel des Großvaters löste sich in den 1950er Jahren auf. Händler mit besserem Sortiment und Service übernahmen seine Kunden. Sie lieferten auch Gewürze zur Wurstherstellung und kamen mit dem Auto, während Josef Schweiger nur ein Fahrrad besaß. Auf dem Heimweg musste er dieses manchmal schieben - wegen der traditionellen Halben bei jedem Wirt, mit dem er einen Handel abschloss.

Bei einem Fellhändler war es naheliegend, dass der Sohn das Kürschnerhandwerk erlernte. Nach einer Lehre bei einem Kürschner in Kaufbeuren war Ernst Schweiger u. a. im damals namhaften Pelzbekleidungsgeschäft Körper in München tätig. Anschließend machte er sich zu Hause selbstständig. Pelzmäntel, -jacken und -hüte, Pelzkrägen und -besatz waren in den 1970er Jahren große Mode und relativ erschwinglich, so dass das Pelzgeschäft florierte, bis eine von Tierschützern ausgelöste Anti-Pelz-Kampagne dem ein Ende setzte und die Kürschner zwang, sich umzuorientieren.

Heinz Scharfs Mutter Berta, die Schwester des Kürschners, wurde nach Schulabschluss Modistin. Schon Im Alter von 19 machte sie sich selbständig mit einem kleinen Hutgeschäft (es war während des Krieges geschlossen, wurde aber Ende der 50er Jahre in der Scheyerer Straße 1, neben dem Pfaffelbräu, wieder eröffnet). In den 1930er Jahren lernte sie ihren zukünftigen Gatten kennen: Carl Scharf, Spross einer oberpfälzer Wirt- und Metzgerdynastie, der 1928 eine Stelle als Buchhalter bei der Brauerei Urban in Pfaffenhofen angetreten hatte.

Weil das erste Kind des jungen Ehepaares schon vier Wochen nach der Geburt gestorben war, wuchs der 1939 geborene Sohn Heinz ganz besonders behütet auf und kann deshalb keine Abenteuergeschichten wie andere Pfaffenhofener erzählen. Trotzdem wurde es ihm und seinen Spielkameraden nicht langweilig. Im Sommer trieben sie sich meistens draußen herum - bis zum Einbruch der Dunkelheit. Beim "Wassersteigen" am Gerolsbach wurden die Füße sauber und der "Bamhackl" (schmutziger Schorf) hatte keine Chance. Nebenbei konnte man ein wenig fischen, immer auf der Hut vor Erwachsenen. Der Winter war nicht so schön. Kälte überall und oft nasse Schuhe. Schlittschuh laufen konnten nur wenige. Für Heinz kam es schon gar nicht in Frage, weil die anzuschraubenden Kufen, die sogenannten "Stöckelreißer", ihrem Namen alle Ehre machten und die Schuhe ruinierten. Daheim vertrieb man sich die Zeit mit einfachen Kartenspielen, Mensch-ärgere-dich-nicht, Mühle oder mit der Sammlung von Briefmarken oder Sanella-Bildern von fremden Ländern.


Die kleine Familie wohnte zunächst im "Schober-Haus" in der Ingolstädter Straße 16. Aus dem Fenster im ersten Stock beobachtete der Junge den Einmarsch der Amerikaner am Ende des Zweiten Weltkriegs, staunend über die ungewöhn¬lichen Fahrzeuge (Schützenpanzer).

Der Vater musste in den Krieg und geriet in britische Gefangenschaft. Wegen seiner Nähe zur Pfaffenhofener NS-Ortsgruppe mussten Frau und Kind die Wohnung für amerikanische Soldaten räumen. Im Gegensatz zu anderen GIs, welche in anderen Wohnungen beträchtliche Schäden verursachten, waren diese Soldaten sehr anständig.
Mutter und Sohn fanden Unterschlupf bei den Großeltern in der Draht. Dort war es weniger komfortabel: Drei Kinder mussten sich ein Schlafzimmer im Dachgeschoß teilen. Bei eisiger Kälte im Winter war Raureif morgens auf der Bettdecke keine Seltenheit. Die Morgentoilette fand in der Küche am Waschbecken statt. Warmes Wasser aus dem Hahn? Fehlanzeige! Es musste vorher auf der Herdplatte erwärmt werden.

Sparsamkeit war oberstes Gebot. Die Oma holte am Abend beim Bortenschlager das Bier zur Brotzeit. Der Großvater hörte abends um acht Uhr im Radio die Nachrichten, dann ging es, je nach Jahreszeit, ab ins Bett, denn Licht - sprich Strom - kostete Geld. Der Garten lieferte Obst und Gemüse. Selbstverständlich gab es auch Hühner, die Eier legten und später im Suppentopf endeten.
Die Johannisbeeren - schwarz, rot und weiß - wurden verkauft. Der kleine Heinz ging mit seiner Mutter im Wald auf die Suche nach Beeren und Pilzen, die ebenfalls ein paar Pfennige einbrachten.

Seinen Vater lernte Heinz Scharf erst 1948 kennen, als dieser abgemagert aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Da war sein Junge neun. Nach seiner Entnazifizierung arbeitete der Vater für einige Zeit als Maurer. Dieses Handwerk hatte er während der Gefangenschaft erlernt. Täglich fuhr er um fünf Uhr früh mit dem Zug zur Arbeit nach München, bis ihm sein früherer Arbeitgeber Urban wieder seine alte Stelle im Brauhaus anbot.

Schon 1941 hatten die jungen Eltern am Rande des sog. Beamtenviertels einen Acker gekauft, ein Gartenhäuschen dort aufgestellt und Obst und Gemüse angebaut. 1954 errichteten sie dann auf diesem Grundstück ihr Einfamilienhaus, in dem heute Heinz Scharf mit Frau wohnt. Wie es in den 50er Jahren häufig der Fall war, wurde aus Geldmangel nicht gleich jeder Raum ausgebaut, so dass der Junge jahrelang im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen musste, während der Vater bis spät abends für die Gewerkschaft Nahrung und Genuss auf der Schreibmaschine klapperte.

In der Schule war körperliche Züchtigung nach dem Krieg noch eine anerkannte Erziehungsmaßnahme. Das sogenannte "Tatzensteckerl" hinterließ rote Striemen auf so mancher Schülerhand und manchem Hinterteil. Im Gegensatz zu damals hat Heinz Scharf heute ein gewisses Verständnis dafür, dass seine ehemaligen Lehrer gelegentlich die Beherrschung verloren - nach allem, was sie im Krieg durchgemacht hatten.

Da geplant war, dass der Sohn das mütterliche Hutgeschäft übernehmen würde, kam er nach seinem Schulabschluss nach München in die Hutmacherlehre, wo er das Handwerk von der Pike auf lernte. Das war eine harte Arbeit, die die Hände beim Formen des heißen Filzes stark strapazierte. Zur Berufsehre gehörte, dass selbst der junge Lehrling außer Haus einen Hut trug - was er nur ungern tat. Sobald er außer Sichtweite war, steckte er die Kopfbedeckung zusammengerollt in die Tasche.

Während der Lehre wohnte Heinz Scharf im Lehrlingsheim bei den Salesianern, einem Missionsorden. Hier teilten sich 40 Mann einen Schlafsaal - beaufsichtigt von einem Pater, der im selben Raum nächtigte. Das Essen war nichts für Gourmets. Bei 400 jugendlichen Bewohnern mussten die Sitten streng sein. Im Schlafsaal herrschte z. B. Stillschweigen, und jeder vierte Sonntag war ein sogenannter Heimsonntag, an dem keiner das Heim verlassen durfte. Ein guter Freund, der gegen diese Regel verstieß, wurde sofort hinausgeworfen.

Nach Abschluss der Lehre bekam Heinz Scharf eine Stelle in einer kleinen Hutfabrik in Miesbach, die für hochwertige Trachtenhüte bekannt war. Da die Nachkommen die Fabrik nicht übernehmen wollten, wurde sie nach Dinkelsbühl verkauft. Dem Käufer ging es dabei in erster Linie um den bekannten Namen und den Kundenstamm. Heinz Scharf ging mit nach Dinkelsbühl, um das dortige Personal einzuarbeiten. Da die neue Firma hauptsächlich gewinnorientiert war, ließ die Qualität der Hüte nach und die Kunden wurden weniger. (In der Dinkelsbühler Zeit lernte Heinz Scharf seine Frau Annelie kennen, die er 1968 heiratete.)

Da er es für sinnvoll hielt, eine kaufmännische Ausbildung anzuschließen, ging er zu Lodenfrey nach München. Das dortige Personal, immer elegant gekleidet, bediente Münchener Honoratioren, Landespolitiker und Berühmtheiten aller Couleur, von Soraya bis Steve McQueen.

Das Hutgeschäft war in den 1960er Jahren generell rückläufig. Von den Pfaffenhofener Geschäften Böller und Rieder existiert schon lange keines mehr. (Die Werkstatt von Hut-Böller befindet sich heute im Museumsdepot in Heißmanning.) Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung wurde der Plan, das mütterliche Hutgeschäft zu übernehmen, fallen gelassen.

Statt dessen entschied sich Heinz Scharf für eine Stelle bei der Fensterfabrik Stemmer im Büro. Die Firma stellte damals Holzfenster mit Kunststoffverkleidung her, die im gesamten Bundesgebiet Absatz fanden. Leider fiel diese Firma der übermächtigen Konkurrenz zum Opfer. Noch ein paarmal wechselte Heinz Scharf den Arbeitgeber, bis er schließlich in der Versicherungsbranche zu landete.

Der berufliche Werdegang von Heinz Scharf und seiner Verwandtschaft zeigt deutlich, wie die wirtschaftliche Entwicklung Lebensläufe beeinflusst hat, wie sie Menschen immer wieder zwang, sich neu zu orientieren. Nur wer flexibel und diszipliniert war, blieb erfolgreich.

(Text: U. Beyer und H. Scharf, November 2017 / Fotos: U. Beyer und Privatfundus von H. Scharf)

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